Reportagen

Süchtig nach Zirbe

Wer auf der Bad Oberdorfer Straße Richtung Ortsausgang Bad Hindelang fährt, wird linker Hand unweigerlich ein kleines Geschäft wahrnehmen, das im Vorbeifahren lediglich durch ein Sammelsurium an Auslagen im Schaufenster auffällt. Dabei handelt es sich um das Haus Nr. 23, das in den vergangenen Jahren ganz unterschiedliche Geschäfte beherbergte und zwischenzeitlich sogar als Büro für Matula im gleichnamigen Fernsehkrimi eine kleine Hauptrolle spielte; die Garage nebenan diente im Film als Leichenhalle.

Heute ist es das Geschäft von Franz-Josef Haas, der es von seinem Bruder mietete und dort sein Hobby zum Beruf gemacht hat. So unscheinbar es auf den ersten Blick wirkt, so auffällig präsentiert es sich bei einsetzender Dämmerung; dann erstrahlen die Exponate in zarten, warmen Rot-, Braun- und Gelbtönen. Eine Vielzahl von Leuchten sorgt für diese beeindruckende Kulisse, an der bei Dunkelheit niemand mehr einfach so vorüberfährt.  

Geboren 1955 und mit zwei Brüdern in Bad Hindelang aufgewachsen, verkörpert Josef Haas alles, was man unter einem Allgäuer Urgestein versteht. Die Schreinerei seines Vaters übernahm ein Bruder, während er und  sein zweiter Bruder zunächst fortgingen. Josef war 47 Jahre lang als Koch tätig, ein Beruf von dem ihm alle abgeraten hatten und den er vermutlich gerade deshalb ergriffen hat. Er wollte nie das tun, was andere von ihm erwarteten: “Ich war ein Trotzkopf.” Dazu passt auch, dass sich für den Franz in seinem Vornamen niemand mehr zu interessieren scheint; er selbst schon gar nicht.

So begann er in noch sehr jungen Jahren seine berufliche Laufbahn als Koch, die er rückblickend fast immer mit großer Freude verfolgte. Die letzten 27 Jahre versorgte er die Gäste im Hindelanger Luitpoldbad mit kulinarischen Köstlichkeiten. Auf die Frage, ob er sich vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung wieder so entscheiden würde, antwortet er ohne zu zögern mit “ja”.

Josefs “heimliche” Leidenschaft galt in den letzten zwanzig Jahren aber nicht nur seinem Beruf, sondern vor allem der Schnitzerei. Als ein junger Bursche ihn einst bat, einmal eine Larve zu schnitzen, erfüllte er ihm – wenn auch zögerlich – den Wunsch. So entstand sein erste Maske aus Lindenholz für die bevorstehende Fasnacht. Da diese Arbeit nicht nur bei dem Burschen gut ankam, sollten der ersten Larve in den kommenden Jahren mehr als einhundert weitere Exemplare folgen. Sie schnitzte Josef allerdings ausschließlich für sich selbst. 

Seit seinem 62. Geburtstag widmet er sich nur noch seinem Hobby. Und sein bevorzugter Werkstoff ist nicht mehr das Lindenholz, sondern die Zirbe. “Die Zirbe schmeckt viel besser als die Linde, die etwas seifig ist. Der Geruch des Zirbenholzes hat so etwas wie einen Suchtfaktor”, erklärt er. Da er kaum Fernsehen schaut und sich lieber seinem Handwerk widmet, hat er nach dem Schnitzen von Larven mit der Erstellung von “schönen, ganz schlichten Brotkisten” begonnen. Dann folgten Käsekisten aus dem Abfall der Brotkisten; sie kommen in Almhütten ohne Kühlschrank zum Einsatz. Diese wurden rasch zum Selbstläufer und Josef erweiterte sein Produktspektrum um Schatz- und Schlüsselkisten.

Als er zum ersten Mal mit Zirbenholz in Kontakt kam, hatte er für dieses außergewöhnliche Material sofort Feuer gefangen. Ursprünglich eine günstige Holzart, die in den traditionellen Zirbenstuben zu finden ist, hat dieser Baum heute einen exklusiven Charakter, der sich auch im Preis niederschlägt. Wer bei einschlägigen Onlinehändlern Zirbe eingibt, findet Hunderte von Angeboten, die Möbel, Handyhalterungen, Duftstäbe, Salben, Parfüms, Cremes, Öle, Schnaps, Schokolade, Seife, Schmuck und Betten beinhalten. Ja selbst ein Frostschutzmittel für das Auto gibt es in der Duftnote Zirbe und die Samen des Baumes werden zum Backen verwendet. So verwundert es nicht, dass man im Handel für vier kleine Brettchen Zirbenholz bis zu fünfzig Euro bezahlen muss. Ein Kubikmeter Rohmaterial kostet aktuell auf dem Holzmarkt rund 1.400 Euro und liegt damit teilweise über dem Preis von Eichenholz.

Zirben können bis zu 1000 Jahre alt werden und sind vor allem wegen ihres intensiven Geruchs ausgesprochen beliebt, der durch das im Holz enthaltene Öl Pinosylvin hervorgerufen wird. Wer sich längere Zeit in einer Zirbenstube aufgehalten hat und die Räumlichkeiten wechselt, trägt diesen Geruch mit sich weiter; so intensiv, dass andere ihn wahrnehmen.

Als ein befreundeter Steinmetz ihm eines Tages aus Südtirol eine Leuchte mit einem Holzherz mitbrachte, verfeinerte Josef sie mit einer Zirbenschindel und sofort wirkte alles sehr viel feiner. Schon bald war die Idee geboren, Leuchten mit modernen LED-Technik aus Zirbenholz herzustellen. Decken-, Wand-, Steh- und Tischleuchten prägen heute den kleinen Ausstellungsraum Josefs, der eher einem Museum gleicht als einem Geschäft. Seit zwei Jahren stellt er fast nur noch Leuchten her, weil ihn die Kombination aus Zirbenholz und Licht begeistert. Wer seine Räumlichkeiten einmal betreten hat, wird rasch feststellen, dass hier das traditionelle Oberallgäu daheim ist. Gemütlichkeit, Wärme, Natur und die einzigartige Handwerkskunst des Hausherrn begeistern auch dann noch, wenn man längst wieder auf dem Weg nach Hause ist. Keine Leuchte gleicht der anderen. Der Unterschied wird nicht nur durch die Form und Größe definiert, sondern vor allem durch die Maserung, die Farbübergänge und die Augen des Holzes erreicht. Die Herstellung ist nicht nur eine kreative Leistung, es gehört auch viel handwerkliches Geschick und Fingerspitzengefühl dazu. Das Holz muss nämlich mit einem Bandschleifer so dünn geschliffen werden, dass es transparent und dennoch stabil ist. Für die Herstellung einer Leuchte benötigt er gut einen Arbeitstag. Alle Fertigkeiten hat er sich selbst angeeignet; mit einigen Arbeiten aus der Vergangenheit wäre er heute nicht mehr zufrieden. Das Streben, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und bei Beginn der Arbeit nur ganz unscharf zu wissen, welches Produkt am Ende dabei entstehen wird, treiben ihn voran.

Im ausgeschalteten Zustand muten die Leuchten unscheinbar und auf den ersten Blick nicht zwingend attraktiv an. Einmal eingeschaltet, verändert sich alles; dann sorgen sie für warme, angenehme Atmosphäre in zarten Beige-, Braun-, Gelb- und Rottönen. Das Licht zaubert wie in einem alten Schattenkino fantastische Muster und Strukturen in das Holz. Im Gegensatz zum Schattenkino zeigen die Leuchten allerdings keine schwarzen Konturen, sondern die ganze im Holz verborgenen Farben- und Formenpracht seiner Zeichnung. Herzförmige Muster, Augen, vasenartige Formen, Bergwelten bei Sonnenaufgang, Meereswogen bei untergehender Sonne, die Varianten sind so vielfältig wie die Natur sie in den Zirbenstämmen geformt, geprägt und hinterlassen hat, und der Phantasie des Betrachters sind keine Grenzen auferlegt.   

Früher hatte Josef das Zirbenholz, das erst ab 1600 Metern Höhe zu finden ist, aus dem Ötztal bezogen. Heute holt er es aus dem touristisch noch nicht so überlaufenen, aber landschaftlich ausgesprochen reizvollen Sarntal bei Bozen. Wer mit Josef spricht, spürt sofort die ganze Leidenschaft, mit der er seiner Tätigkeit nachgeht. Er betreibt keinerlei Werbung, hat keinen Internetauftritt und beabsichtigt auch nicht, künftig mit seinem “Unternehmen” zu wachsen. “Wenn am Ende des Jahres ein Urlaub für meine Frau und mich herauskommt, ist das genug, mir geht es nicht um Profit. Meine Hände müssen arbeiten,” sagt er bescheiden.”

Nur mit dieser Einstellung ist es auch zu verstehen, dass er sieben Tage pro Woche arbeitet. “Ich sage immer, dass die Woche so schön wäre, wenn es die Sonntage nicht gäbe”, gibt er mir am Ende meines Besuchs zu verstehen.